Speichern und Vergessen

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Was hab ich es schon verflucht – mein Gedächnis.

Mein Gedächnis ist wie eine ununterbrochen speichernde interne Festplatte. Bisher mit unbegrenzter Kapazität und mit nur winzigen, verschmerzbaren Datenverlusten.

Zahlen konnte ich mir schon immer gut merken – noch heute weiß ich Telefonnummern, die ich schon Jahrzehnte nicht mehr benutzt habe.

Gesichter – habe ich jemanden sehr lange nicht gesehen, dann weiß ich zwar ab und an mal nicht mehr den Namen dazu, kann die Person aber immer richtig zuordnen – privat, Beruf, wann, wie, warum und wo getroffen.

Erlebnisse – auch wenn sie schon sehr, sehr lange zurückliegen -, an sie kann ich mich auch nach vielen Jahren noch erinnern, manchmal verwechsele ich Orte, die mit diesen Erlebnissen in Zusammenhang stehen, aber an die Geschehnisse an sich kann ich mich detailliert erinnern.

Gesprochenes – von Menschen, deren Gesagtes mir wichtig war, Menschen, die mich in ihrer Persönlichkeit beeindruckt haben: An das, was sie mir einmal gesagt, mir anvertraut, mir erzählt haben, kann ich mich auch nach sehr vielen Jahren noch erinnern. Auch daran, wo diese Unterhaltungen stattfanden und ich kann die Atmosphäre , in der sie geführt wurden, immer noch nachfühlen.

Ich habe schon sehr oft erlebt, dass Menschen mir etwas erzählt haben und irgendwann danach das Gefühl vermittelten, dass sie hoffen, dass ich es schnell wieder vergesse, weil es sich um Zusagen oder Versprechungen gehandelt hat, an die sie sich nicht mehr gebunden fühlen, an die sie nicht mehr erinnert werden wollten.

Klar, auch mir passiert es einmal, dass ich einen Termin zum Reifenwechsel vergesse, dass ich vergesse, etwas mitzubringen. Vermutlich, weil das für mich etwas nicht dringend Speichernswertes ist.

Ich fühle mich manchmal wie ein Schwamm, der Informationen, Inhalte und Eindrücke aufsaugt. Ein Schwamm gibt sein Wasser aber ab, ich meine gespeicherten Informationen, die gespeicherten Worte und Erlebnisse aber nicht.

Meist ist mir mein Gedächnis keine Last. Ich krame hie und da in Erinnerungen und brauche nur ein Jahr, ein Monat, einen Ort, ein Bild oder einen Namen und alles ist wieder da.
Es ist nur dann eine Last, wenn meine Erinnerungen, wenn dass, was ich weiß und gespeichert habe, dazu führt, andere Menschen entlarven zu können, ihnen Wiedersprüche, Halb- oder Unwahrheiten wie auf einem Silbertablett präsentieren zu können. Wenn ich das wollen würde. Meist will ich das nicht. Weil ich andere nicht brüskieren und auch nicht möchte, dass sie sich ertappt oder beschämt fühlen. Eher halte ich Verletzungen und Enttäuschungen, die aus solchen Erfahrungen entstehen, aus und trete den Rückzug an.

Im schlimmsten Fall werden Daten meiner Festplatte in Zusammenhang mit solchen Enttäuschungen überschrieben, manchmal rekonstruiere ich sie, dann ist alles wieder da und kann erneut bearbeitet werden.

Kurz: Mein Gedächnis hat mich noch nie im Stich gelassen und immer brav seinen Dienst versehen.

______________

Das vergangene Wochenende wart hart. Sehr hart und es wird mich noch lange beschäftigen.

Zwei Besuche – von einem will ich hier erzählen. Vom Besuch beim Vergessen.

Fast 94 Jahre alt. Körperlich noch ganz gut beisammen, nur die üblichen altersbedingten Wehwehchen. Immer noch lebhaft an Vielem interessiert: Politik, Sport, Weltgeschehen.

„Schön dass du da bist! Ich muss dir ja noch zum Geburtstag gratulieren! Ein runder Geburtstag!“
„Nein, ich hatte doch im April Geburtstag und der runde Geburtstag liegt entweder sieben Jahre zurück oder ist in drei Jahren“.
„Aha. Hm.“

Pause.

„Sag mal“ und nahm das Mobilteil des Telefons in der Hand … „Wie funktioniert das jetzt? Da tippe ich also die Buchstaben ein, acht sind es, nicht wahr? Und was mache ich dann?“
„Nein, da tippst du keine Buchstaben, sondern die Zahlen der Telefonnummer der Person ein, die du anrufen möchtest. Hier in der Stadt sind es weniger Zahlen, als wenn du beispielsweise mich, also in einer anderen Stadt anrufst, denn dann musst du ja die Vorwahl der Stadt noch dazu nehmen.“
„Aha. Und was mach ich dann?“
„Nachdem du die Telefonnummer mit den Zahlentasten gedrückt hast, drückst du den grünen Hörer. Wenn du das Telefonat beendet hast, drückst du auf den roten.“
„Aha, dann kann ich dich also mal anrufen? Und wo finde ich deine Telefonnummer?“
„Ja, genau. Du hast alle wichtigen Telefonnummer in deinem kleinen braunen Telefonbuch notiert.“

Ich hatte mich schon gewundert, dass sie seit einigen Wochen nicht mehr von sich aus anrief.

„Sag mal, wie heißen deine Schwestern nochmal?“

Drei kleine Episoden und Fragen, die so bisher noch nie aufgetaucht sind.

Sie versucht sich intensiv gegen das Vergessen zu wehren, merkt, dass das Vergessen immer deutlicher wird und taucht ohne ihr Wollen immer tiefer in das Meer des Vergessens ein.

Ich bin so weit weg, ich brauche dreieinhalb bis vier Stunden Autofahrt bis dort hin. Ich wünschte, ich könnte sie bei dieser Reise, die ich nicht aufhalten kann, an die Hand nehmen, damit ihr unterwegs nichts passiert. Das äußerlich Wichtigste ist getan, einmal die Woche schaut eine liebe und vertrauenswürdige Person nach ihr. Noch kann sie in ihrer Wohnung leben, versorgt sich, kommt gut klar und im Notfall kann sie Hilfe rufen, aber wie lange reicht das aus?

Vergessen ist dann dankbar, wenn man vergisst, dass man vergisst. Es schmerzt nicht. Es gibt nur einen Moment der Erkenntnis, dass es so ist, aber dieser Moment wiederum ist auch schnell vergessen.

Ich hab so viel Schönes auf meiner Festplatte, das ich nie vergessen will. In einem Ordner der Festplatte habe ich Pläne und Träume, die ich verwirklichen will.

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